Originalartikel aus dem PURE VALUE Magazin
THONET – AM ANFANG WAR DER STUHL
Tradition, Innovation und jede Menge Ikonen, Thonet schreibt seit fast 200 Jahren Möbel-Geschichte. Immer noch in Familienbesitz, hat sich das Unternehmen regelmäßig neu erfunden – und ist sich doch stets treu geblieben
Ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl. Lässt sich ein Stuhl mit einem Auto vergleichen? Wenn der Wiener Kaffeehausstuhl von Thonet ein Auto wäre, dann vermutlich ein Ford Modell T. Oder ein VW-Käfer. Oder ein Golf … Schließlich wird er immer noch hergestellt als passende Sitzmöglichkeit für praktisch jede Gelegenheit. Er fühlt sich im feinen Salon ebenso wohl wie im luftigen Straßenbistro. Ein zeitloser Stuhl für Jung und Alt, für jeden Geschmack, für jeden Geldbeutel.
Und es ist ein Stuhl, der eine ziemlich einzigartige Industriegeschichte geschrieben hat. Einem gewissen Michael Thonet war es Mitte des 19. Jahrhunderts durch eine neuartige Technologie des Biegens von massivem Buchenholz erstmals gelungen, Stühle industriell zu fertigen. Das Revolutionäre an der damaligen Nr. 14 und dem heute als 214 immer noch aktuellen „Kaffeehausstuhl“ war, dass er vollständig in seine wenigen Einzelbestandteile zerlegt und somit in arbeitsteiligen Prozessen preiswert hergestellt werden konnte. So wie Henry Ford mit der Fließbandproduktion des T-Modells dem Auto zum Durchbruch verhalf, hatte die Nr. 14 bereits ein halbes Jahrhundert zuvor als erstes Massenprodukt der Möbelindustrie platzsparend verpackt ihren Siegeszug in die ganze Welt angetreten. In eine Kiste von einem Kubikmeter passten immerhin 36 zerlegte Stühle. Zahlreiche Nachahmer – darunter auch ein weltumspannendes schwedisches Möbelhaus – machen dem Kaffeehausstuhl seitdem vergeblich seinen Platz streitig. Das Original ist eben das Original ist das Original.
Von Thonet als einem Unternehmen mit Tradition zu sprechen, wäre eine geradezu fahrlässige Untertreibung. Es gibt in der gesamten Möbelindustrie kaum eines mit einer ähnlich langen und bewegten Geschichte. Eines, das unsere Vorstellungen vom Wohnen regelmäßig mit neuen Verarbeitungsmethoden und mutigen Entwürfen hinterfragt und auf den Kopf gestellt hat. So wie es bereits den Bugholzstuhl zu einem Welterfolg gemacht hatte, verhalf es in den 1930er Jahren dem Stahlrohr – bis dahin ein technischer Werkstoff aus der Industrie und bestenfalls geeignet für Fahrräder oder Heizungsrohre – mit auch heute noch lebendigen Entwürfen zum Durchbruch im Wohnzimmer. Auf die berühmte Nr. 14 folgten weitere stilprägende Ikonen aus dem Hause Thonet – nur eben nicht aus gebogenem Buchenholz, sondern aus Stahlrohr.

Konferenztisch S 8000 Wie eine Skulptur: Die von Badi Teherani gestaltete Konferenztisch-Anlage S 8000 vereint hohe Funktionalität mit visueller Leichtigkeit. Der Fu.bügel aus Metall setzt sich wie ein Band an der Oberfläche der Tischplatte fort und wird dort zur Funktionsfläche –individuell lassen sich dort Multimedia-Module integrieren. Die Verkabelung verläuft unsichtbar in der Trägerstruktur
Aber zurück zu den Anfängen, schließlich begann alles mit Holz an. Michael Thonet experimentierte in seiner 1819 in Boppard am Rhein gegründeten Schreinerei mit neuartigen Holzbiegetechniken. Die ersten Entwürfe aus gebogenem Schichtholz entstanden um 1830. Als Fürst Metternich, der gerade auf dem Wiener Kongress Europa neu geordnet hatte, auf die Begabung Michael Thonets aufmerksam wurde, holte er ihn und seine Familie 1842 nach Wien. Dort war er unter Carl Leistler maßgeblich an der Ausstattung des Palais Liechtenstein beteiligt. Den endgültigen Durchbruch schaffte Thonet1859 mit der bereits zitierten Nr. 14, dem legendären Kaffeehausstuhl. Weitere Bugholzmöbel folgten – so der Schaukelstuhl Nr. 1 oder der Schreibfauteuil Nr. 9 (heute Nr. 209) mit seinen elegant geschwungenen Armlehnen, die selbst Le Corbusier zum Schwärmen brachten. Oder1904 der Jugendstilsessel 247 von Otto Wagner, der sogenannte Postsparkassen-Stuhl. Den Höchststand erreichte die Thonet-Produktion1912. Allein in diesem Jahr wurden zwei Millionen verschiedene Artikel in inzwischen sieben Produktionsstätten hergestellt und weltweit verkauft. Die neuen Möbelfabriken waren überwiegend in Osteuropa entstanden, nur die letzte neue Fabrikation hatte Thonet im hessischen Frankenberg errichten lassen.
Die eigene Stahlrohr-Fertigung war ein weiterer mutiger Schritt des Unternehmers Thonet. In den 1920er-Jahren hatte Marcel Breuer am Bauhaus mit gebogenem Stahlrohr experimentiert und daraus Möbel entwickelt. 1926 entwarf der holländische Architekt Mart Stam den ersten frei kragenden Stuhl, den späteren Freischwinger – die Möbel aus dem neuartigen Material wurden allerdings vom Publikum zunächst eher kritisch beurteilt. Dennoch eignete sich Thonet die innovative Produktionstechnik an, spezialisierte das Werk Frankenberg auf die Stahlrohrverarbeitung und verschaffte dem Stahlrohrkonzept so eine völlig neue Dimension und Verbreitung. Denn als Erfinder des leichten und preiswerten Bugholzmöbels war das Unternehmen nicht nur bei einem breiten Publikum bekannt, sondern auch von Avantgardisten wie Adolf Loos, Josef Hoffman oder Le Corbusier geschätzt. Immer noch gehören zahlreiche klassische Stahlrohr- Erfolgsmodelle zum Produktportfolio von Thonet – darunter die ersten Freischwinger S 33 und S 43 von Mart Stam, der Freischwinger S 32/S 64 und der Sessel S 35 von Marcel Breuer oder der S 533 von Ludwig Mies van der Rohe.
Heute ist Frankenberg nicht nur Firmensitz, sondern auch die einzig verbliebene Produktionsstätte des Traditionsunternehmens. Die mehr als bewegte Geschichte im Zeitraffer: Enteignung der osteuropäischen Werke und Zerstörung des Thonet-Hauses in Wien im Zweiten Weltkrieg. Auch das Werk Frankenberg wurde bei Bombenangriffen zerstört, blieb jedoch in Familienbesitz und wurde in den Nachkriegsjahren von Georg Thonet, Urenkel des Firmengründers, wieder aufgebaut. Schnell kam auch der wirtschaftliche Erfolg zurück. Thonet suchte erneut die Zusammenarbeit mit herausragenden zeitgenössischen Designern – von Egon Eiermann, Verner Panton, Eddie Harlis, Hanno von Gustedt, Rudolf Glatzel, Pierre Paulin, Gerd Lange, Hartmut Lohmeyer oder Ulrich Böhme über Wulf Schneider, Alfredo Häberli, Christophe Marchand bis hin zu Sir Norman Foster, James Irvine, Piero Lissoni, Hadi Teherani, Glen Oliver Löw, Naoto Fukasawa oder Stefan Diez reicht die Liste der hochkarätigen Gestalter, die in den letzten 60 Jahren für Thonet tätig waren und nach wie vor sind.
„Wir verstehen uns als Kulturträger“, bekennt Thorsten Muck, der vor zwei Jahren die Gesch.ftsführung des Familienunternehmens von Peter Thonet übernommen hat. Aus den Werken der Bugholz- und Bauhaus-Zeit sind längst kulturelle Beiträge geworden, die ganze Design-Epochen bestimmt haben. Das gelte es zu bewahren und gleichzeitig behutsam zu entwickeln, beschreibt Muck seine Aufgabe. Der quirlige Mitvierziger managt Thonet mit sichtbarer Leidenschaft und herausragendem Gespür für Tradition und Moderne. „Was sind eigentlich unsere Grundwerte?“, so die aus seiner Sicht entscheidende Frage. „Diese müssen wir verdichten, als Fundament annehmen und uns von da aus weiterentwickeln.“

Industrielle Manufaktur Qualität und Know-How aus erster Hand: Traditionelles Handwerk trifft bei auf modernste Technologien. Mit Leidenschaft und Präzision entstehen die Design-Ikonen aus Bugholz und Stahlrohr sowie zeitgenössische Möbel namhafter Designer im Frankenberger Werk. Sie alle zeichnen sich durch höchste Qualität und zeitlose Formensprache aus. Hinter jedem Thonet- Produkt stehen ein durchdachtes Konzept und mehrere Fertigungsschritte – von der Verarbeitung des Holzes oder Stahlrohrs bis hin zur Einfärbung und Polsterung
Praktische Beispiele gefällig für den eingeschlagenen Weg zwischen Tradition und Moderne, zwischen Vergangenheit und Zukunft? Die neue Farbpalette der Stahlrohrgestelle greift neben modischen auch wieder ursprüngliche Bauhaus-Töne auf – so gibt es den klassischen Freischwinger S 43 von Mart Stam jetzt in sieben unterschiedlichen, jeweils als robuster Lack aufgetragenen Farben von Weiß über Senfelb, Tomatenrot, Schokobraun oder Graugrün bis hin zu Schwarz. Der Loungechair – im Grunde ein Klassiker des Hauses, wenn auch seinerzeit noch nicht so bezeichnet – feiert mit dem Programm808 und seinem innovativen Wechselspiel aus ungezwungener Offenheit und schützender Hülle fröhliche Renaissance. Entworfen vom Münchner Designstudio Formstelle wurde der einladende Stuhl vom Markt so begierig aufgenommen, dass das Sortiment zügig auf insgesamt fünf neue Loungemöbel ausgeweitet werden konnte – drei davon tragen die Handschrift des hauseigenen Designteams.
Auch bei der Gestaltung bewegt sich Thonet geschickt zwischen den beiden Polen hausinternes Werks- und externes Autoren-Design. Ob das Briefing für ein neues Projekt an einen internen Designer oder einen externen Partner geht, hält sich Muck grundsätzlich offen. So oder so, sagt er, würden sich beide Seiten gegenseitig befruchten, weil jedem externen Designer ein „Pate“ aus dem Thonet-Team zugeordnet werde, der das Projekt intern verantworte. So trägt auch das werkseigene Design-Team immer wieder mit neuen Entwürfen zum vielseitigen Produktportfolio der Frankenberger bei. Zum Beispiel mit dem Sekretär S 1200, einem filigranen Schreibtisch für das Home Office mit unverkennbaren Anleihen bei der hauseigenen Kollektion klassischer Möbel aus der Bauhaus-Zeit, zugleich aber angereichert mit modernen Funktionen wie einem Kabelmanagement-System.

Stahlrohr-Schreibtisch S 285/2 Ein Stück Zeitgeschichte: Lebendiges Beispiel für den programmatischen Anspruch des Bauhauses, Kunst und Technik zu einer formalen Einheit zu verbinden. In den Entwurf aus Stahlrohr fügen sich Tischplatte und Aufbewahrungselemente aus lackiertem oder gebeiztem Holz harmonisch ein. Das tragende Gestell besteht aus einer Linie, die hölzernen Elemente scheinen in ihr zu schweben

Stahlrohr-Freischwinger S 32 Diese Entwürfe sind die wohl bekanntesten und am meisten produzierten Stahlrohr- Klassiker. Ihre wichtigsten Merkmal sind die ausgereifte Form und die geniale ästhetische Verbindung von Stahlrohr, Holz und Rohrgeflecht. Der Entwurf fällt in Breuers Berliner Jahre 1928 bis 1931, Thonet produziert diese Modelle seit 1930 ohne (S 32) und mit Armlehnen (S 64). Gestell Stahlrohr verchromt oder farbig lackiert. Holzteile in Buche gebeizt. Bespannung mit Rohrgeflecht mit transparentem, stabilem Kunststoffstützgewebe, Netzgewebe oder gepolstert und mit Leder oder Stoff bezogen. Die Polstervariante wird auch in Ausführungen mit „Pure Materials“ gefertigt

Sekretär S 1200 Kompaktes Home Office: Kleine Schreibtische helfen dabei, Platz zu sparen – nicht zuletzt deshalb sind sie in den letzten Jahren ein fester Bestandteil zeitgemäßen Wohnens geworden. In unterschiedlichen Ausführungen und mit optionalem Zubehör wird der filigrane S 1200 zu einem ganz persönlichen Möbel , das Gestell ist neben der klassisch verchromten Variante auch in unterschiedlichen Stahlrohrfarben erhältlich. Der Entwurf von Randolf Schott ist von der hauseigenen Kollektion klassischer Bauhausmöbel inspiriert.

Konferenztisch A 1700 Evo Tischprogramm à la carte: Neu beim A1700 „Evolution“ ist die Möglichkeit der Individualisierung. Thonet bietet für beide Beinvarianten zahlreiche Optionen in Bezug auf Materialien und Ausführungen, ein perfekt angepasster Konferenztisch kann so mit jedem Raum zu einem Gesamtkonzept verschmelzen

Konferenzstuhl S 840 Außergewöhnlicher Besucher- und Konferenzstuhl: Auffallend ist die akzentuierte Trennung von Schale und Gestell. Sitzschale aus Formholz mit formalen Analogien zum Automobildesign, die körpergerechte Form mit spezieller Polsterung bietet hohen Sitzkomfort. Verschiedene Rückenhöhen und Fußgestelle stehen zur Wahl. Die Stühle mit Fünfarmdrehkreuz haben eine Wippmechanik, die Ausführungen ohne Rollen zusätzlich eine Rückholmechanik

Bugholzstuhl 209 Meisterwerk in Konstruktion und Fertigung: Wie das Urmodell der Bugholzstühle, der 214, besteht auch der 209 nur aus sechs Teilen. Der ausladende Bügel, der Rücken- und Armlehne zugleich bildet, wird in einem Stück aus massivem Buchenholz in seine Form gebogen. Bereits von Le Corbusier in vielen seiner Gebäuden eingesetzt

Stahlrohrsessel S 35 Doppelter Freischwinger-Effekt: Vorgestellt als Beitrag des Deutschen Werkbundes 1930 im Pariser Grand Palais. Mit dem S 35 ist es Marcel Breuer gelungen, alle Funktionen eines frei schwingenden Stahlrohrsessels in der Konstruktion einer einzigen durchgehenden Linie aufzunehmen. Dadurch entstand eine Dopplung des Freischwinger-Effekts, denn die unabhängig vom Sitz federnden Armlehnen balancieren das Schwingen des Sitz- und Rückengestells aus

Schaukelstuhl S 826 Neuinterpretation mit viel Schwung: Mit diesem Entwurf knüpft Ulrich Böhme an die Tradition von Thonet an. In Typus und Form ist der S 826 eine Neuinterpretation des klassischen Bugholz-Schaukelstuhls No. 1 von 1860, im Material orientiert er sich an den Stahlrohrmöbeln

Bugholzsofa 2000 Komfortables Erbe: Mit dem Bugholz-Sofa 2000 zitiert Christian Werner die Thonet- Ursprünge auf zeitgemäße Art zitiert. Das Sofa mit hohem Wiedererkennungswert basiert auf einem luftig wirkenden Gestell aus gebogenem Holz, das ein bodentiefes, üppiges Sitzpolster umspannt. Seine losen Rückenkissen und Seitenkissen lassen sich nach Belieben kombinieren

Sessel 860 Grafische Kontur trifft auf gepolsterte Gemütlichkeit: Vollholz-Gestell mit Holzstreben als wiederkehrende Dreiecke. In spannendem Kontrast zu dieser einprägsamen Kontur stehen die komfortablen Sitzund Rückenpolster. Ein weiteres Merkmal dieses Sessels ist seine Individualisierbarkeit. Abgerundet wird das Programm durch einen Fußhocker, dessen Holzelemente die Formen des Sesselgestells aufnehmen

Lounge-Möbelprogramm S 650 Neuinterpretation klassischer Lounge- Möbel: Die Rückenlehne des Sofas scheint nur an das Gestell aus Stahlrohr angelehnt zu sein – so entsteht eine betont leichte Optik. Mit dem für den Wohn- und Objektbereich gleichermaßen geeigneten Programm S 650 bietet Thonet auch eine variabel gestaltbare Sitzlösung für Warte- und Empfangszonen. Ein- wie auch der Zweisitzer haben ausreichend Sitzfläche, ein optionaler Tisch, der zwei Sesselelemente miteinander verbindet, bietet Abstellfläche
Da kamen den internen Designern um Randolf Schott wohl auch ihre umfangreichen Erfahrungen im Projektbereich zugute. Auch hier hat Thonet längst seine eigene Handschrift entwickelt und punktet mit charaktervollem Mobiliar für das Büro. Mit dem Tischprogramm A 1700 Evolution beispielsweise, das mit seiner raffinierten Verbindungstechnik überzeugt und gleichzeitig über eine Vielzahl an Materialien und Ausführungen individuellen Gestaltungsspielraum lässt. (Bereits 1992 war die Tischanlage S 1000 die erste, bei der Beine und Tischplatte getrennt werden konnten, um modulare Tischkonfigurationen zu bauen, was völlig neue Möglichkeiten in der Konferenzraumgestaltung eröffnete.) Oder mit dem Konferenzstuhlprogramm S 95, das sich über zahlreiche Materialkombinationen anpassen lässt, durch seine prägnant-klare Linienführung zeitlos wirkt und zugleich die Innovationskraft des Unternehmens verkörpert. Und was die Materialien anbelangt: Als sich in den 1970er Jahren Kunststoff auch in der Möbelbranche ausbreitete, landete Thonet einen wahren Coup mit dem Stuhl „Flex“ von Gerd Lange – dieser war nämlich von Anfang an nicht als Einzelstuhl, sondern als flexibles System geplant, das sich durch Reihenverbindungen, Stapelfähigkeit und Variantenvielfalt auszeichnete.
Individualität und Flexibilität sind eben neben der handwerklichen Tradition und der Innovationskraft so etwas wie die DNA des Unternehmens. Schließlich hatte es gleich am Anfang seinen ersten Großauftrag zu bewältigen: 1850 zeigte Michael Thonet seinen Sessel Nr. 4 auf einer Ausstellung des Niederösterreichischen Gewerbevereins. Die Gastronomin Anna Daum war begeistert und erteilte ihm daraufhin einen Großauftrag zur Ausstattung ihres Kaffeehauses am Wiener Kohlmarkt. Im gleichen Jahr wurden an ein Hotel in Budapest 400 Stühle desselben Modells verkauft – Meilensteine im frühen Projektgeschäft und der Beginn einer einzigartigen Erfolgsgeschichte.
TRADITION UND MODERNE
Thorsten Muck führt die Traditionsmarke Thonet seit zwei Jahren in eine moderne Zukunft. Ein Gespräch über Ikonen der Möbelgeschichte, das Selbstverständnis als Kulturträger und Quellen der Inspiration

Loungesessel-Programm 808
Zwischen Tradition und Moderne: Das noch junge Loungesessel-Programm808 des Münchner Designstudios Formstelle (20) ist eine konsequente Neuinterpretation des
klassischen Ohrensessels– das obere Rückenteil erinnert an einen schützenden Kragen, die Schale umfängt den Sitzenden und vermittelt Geborgenheit

Stahlrohr-Schreibtisch S 285
Hier die „große“ Variante des S 285 des Bauhaus-Klassikers von Marcel Breuer mit beidseitigen Schubladen. Aktuell wurden die Schubladen des Schreibtisches mit Vollauszug und gedämpftem Einzug ausgerüstet

Individualität als Standard
Auf die Verschmelzung von Arbeits- und Wohnwelten hat Thonet auch mit Maßanfertigungen für Konferenzbereiche reagiert. Durch die Kombination standardisierter Module mit den Möglichkeiten der hausinternen handwerklichen Fertigung entstehen kundenspezifische Möbel, die trotzdem bezahlbar bleiben
PUREVALUE: Herr Muck, Sie haben mit Peter Thonet einen „echten Thonet“ als Geschäftsführer abgelöst und leiten das traditionsreiche Familienunternehmen seit nunmehr zwei Jahren. Macht die Tradition den besonderen Reiz des Unternehmens aus – oder die besondere Herausforderung?
Muck: Das Besondere an der Situation ist das Unternehmen selbst mit der schon fast 200 Jahre alten Marke Thonet. Für mich persönlich ist es eine besondere Herausforderung, aber auch eine große Freude, für diese Ikone der Möbelgeschichte arbeiten zu dürfen.
Schränkt eine so lange Tradition nicht Ihren Handlungsspielraum ein, weil Sie vieles nicht wagen können, was ein junges Unternehmen völlig unbeschwert riskieren würde?
Ich finde auch Grenzen spannend, weil sie zum noch intensiveren Nachdenken zwingen. Dass wir genau überlegen müssen, wer wir eigentlich sind und welche Schritte zu uns passen, empfinde ich nicht als nachteilig – ganz im Gegenteil.
Wer ist Thonet?
Wir verstehen uns als Kulturträger. Aus dem, was wir in der Bugholz- und Bauhaus-Zeit schufen, sind kulturelle Beiträge geworden, die ganze Design-Epochen bestimmten. Das gilt es zu bewahren – und gleichzeitig behutsam weiterzuentwickeln. Insofern befinden wir uns gerade in einer Phase der Selbstreflexion: Was sind eigentlich unsere Grundwerte? Diese müssen wir verdichten, als Fundament annehmen und uns von da aus weiterentwickeln.
Wir erleben eine Renaissance des Stahlrohr- Möbels – und eine Neuinterpretation. Welche neuen Ideen bringen Sie in den Klassiker?
Wir bewegen uns da zwischen zwei Polen. Zum einen blicken wir zurück an den Anfang, indem wir zum Beispiel bei den Stahlrohrgestellen seit letztem Jahr wieder die Farben aufgegriffen haben, die den Beginn der Bauhaus-Zeit markieren. Die Gestelle waren nämlich zunächst farbig, dann vernickelt und erst danach verchromt. Mit der Lackierung sind wir also wieder am Anfang angekommen, wobei wir nicht nur Farben aus der Bauhauszeit aufgegriffen haben, sondern auch zeitgenössische.
Loungemöbel waren bislang nur als Bauhaus- Klassiker bei Thonet zu finden. Warum haben Sie jetzt gleich fünf neue Produkte für den Lounge-Bereich gebracht?
Traditionell waren Loungemöbel, auch wenn man sie vielleicht damals noch nicht so nannte, immer Bestandteil unseres Angebots. Daran möchten wir anknüpfen und unsere Klassiker mit aktuelleren Entwürfen anreichern. Es war uns wichtig, unterschiedlichste Geschmackswelten zu bedienen, wenngleich die Sessel und Sofasimmer die Thonet-DNA in sich tragen.
Drei der fünf neuen Loungemöbel haben Designer aus dem Thonet Design Team entworfen. Wie wichtig sind externe Designer noch für Thonet?
Grundsätzlich legen wir bei jedem neuen Projektfest, ob wir das Briefing entweder an einen unserer internen Designer oder einen externen Partner senden. Das halten wir uns prinzipiell offen. Beides – sowohl Werks- als auch Autorendesign– hat seine Berechtigung und befruchtet sich im Übrigen gegenseitig. So hat jeder externe Designer einen Paten aus dem Thonet Design Team, der das Projekt intern verantwortet. Das hat die Vorteile, dass wir intern up to date bleiben und externe Designer sich schneller in unsere Abläufe finden.
Ihre aktuellen Neuheiten lassen die Inspiration durch Thonet-Produkte aus den 50er und60er Jahren deutlich erkennen. Ist dieses Erbe eine Bereicherung oder eher eine Last für die Designer?
Nach meiner Wahrnehmung empfinden die Kollegenaus dem Thonet Design Team unseren umfangreichen – auch physisch vorhandenen –Fundus als Quelle der Inspiration. Wir können aufzahlreiche Entwürfe aus unserer Geschichte zurückblicken, die sich gerade auch im Nachhinein als echte Meisterwerke entpuppt haben. Daraus die markantesten Punkte zu isolieren und um diese herum neue Ansätze zu entwickeln, bedeutet doch, eine authentische Geschichte weiter zu erzählen. Das schafft kreativen Halt und lässt zugleich Raum für eigene Interpretationen.
Sie sprachen von zwei Polen – wohin geht also die entgegengesetzte Weiterentwicklung?
Wir nehmen alte Entwürfe und interpretieren sie neu, indem wir diese Klassiker mit Funktionenanreichern, die wir heute brauchen. Den Sekretär zum Beispiel mit einem Kabelmanagement-System, darüber musste man sich nämlich in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch keine Gedanken machen. Schließlich haben wir zu Beginn des Jahres anlässlich der Kölner Möbelmesse unseren Sessel 808 vorgestellt. Er prägt gestalterisch eine neue Facette von Thonet und hat erst auf den zweiten Blicketwas mit unserer Tradition zu tun. Wir werden, wie bereits auf den letzten Messen, immer auch komplett neue Produkte vorstellen. Auf den Klassikern allein, auch wenn sie eine große Bedeutung für uns besitzen, werden wir uns nicht ausruhen.
Die Thonet-Produktentwicklung war auch das Ergebnis neuer Möglichkeiten in der Materialbearbeitung: Zuerst gelang es, Holz zu biegen, dann Stahlrohr. Profitieren Sie immer noch von diesen Innovationen?
Beide Technologien sind bei uns noch vorhanden, sowohl das Holz- wie das Stahlbiegen. Wichtig zu wissen ist auch, dass diese technologischen Innovationen nur gekommen sind, weil sie die Formensprache gefordert hat. Am Anfang war der Wunsch nach neuen Formen –erst dann kam die Technologie. Michael Thonet wollte mit seinen neuen Möbeln aus Bugholzeine bewusste Abgrenzung zu den damals üblichen sehr schweren Möbeln aus geschnittenem Vollholz schaffen. Den Gestaltern am Bauhaus in Dessau war es ein Anliegen mit dem Freischwinger einen Stuhl zu entwerfen, der sinnbildlich das Sitzen auf einer elastischen Luftsäule ermöglicht. Seine Gestalt sollte für das neue Wohnen stehen.
Fehlen damit der Möbelbranche Innovationen als Motor der Weiterentwicklung?
Wir beschäftigen uns mit neuen Kunststoffen, anderen Formen des Verarbeitens, der Metallbearbeitung, um zu sehen, welche Möglichkeiten uns das bietet. Oft kommen wir dennoch mit der Gewissheit zurück, dass die vorhandenen Formen bereits so gut sind, dass sich jede Veränderung erübrigt.
Wir haben beobachtet, dass Thonet in den letzten Monaten verstärkt Pop-up-Stores eröffnet, unter anderem in Hamburg, Wien und zuletzt in Stuttgart. Was verbirgt sich hinter diesem Ansatz?
Thonet wird oft noch als Lieferant von Einzelmöbeln wahrgenommen. Aber wir sind schon vielweiter. Und das kann man am besten demonstrieren, indem man unsere Ideen zu Lebenswelten als Konzept in einen solchen Store kleidet. Immer sind diese temporären Installationen Bestandteileiner Kooperation mit jeweils lokalen Händlern.

„Wir verstehen uns als Kulturträger“: Geschäftsführer Thorsten Muck steuert Thonet mit Gefühl für die Vergangenheit in die Zukunft